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Titel
Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe


Autor(en)
Borutta, Manuel
Reihe
Bürgertum Neue Folge 7
Erschienen
Göttingen 2010: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
488 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Ulrich Wyrwa, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin Universität Potsdam

Der Kulturkampf war beileibe kein spezifisch deutsches Problem mit Bismarck als allgewaltigem Akteur, wie in der älteren und bisweilen auch noch der neueren Literatur zu lesen, sondern ein europäisches Phänomen, das in allen Ländern des Kontinents mit katholischer Bevölkerung im Verlauf des 19. Jahrhunderts in jeweils spezifischen Formen aufgebrochen ist. Auch handelte es sich nicht um einen kurzen, zeitlich auf die 1870er Jahre begrenzten Konflikt zwischen Kirche und Staat, sondern um einen Antagonismus, der das ganze 19. Jahrhundert durchzieht. Am Beispiel Deutschlands und Italiens hat Manuel Borutta diese europäischen Dimensionen der Kulturkämpfe analysiert. Dabei hat er nicht nur systematisch vergleichende Perspektiven verfolgt, sondern auch die vielfältigen transnationalen Bezüge und kulturellen Verflechtungen in seine Untersuchung einbezogen. Sein zeitlicher Fokus reicht mit einigen Rück- und Ausblicken von den 1830er bis in die 1880er Jahre, sozial bezieht sich die Studie auf das Bürgertum, einschliesslich des verbürgerlichten, in den Städten lebenden Adels. Der umfangreiche Quellenkorpus, den Borutta für seine Analyse herangezogen hat, besteht nahezu ausschliesslich aus publizierten Quellen. Der Katholizismus wurde im 19. Jahrhundert, so Borutta, sowohl in Deutschland als auch in Italien als rückständig, primitiv und barbarisch klassifiziert. Folgenreichen Anteil an der Konstruktion dieses negativen Bildes hatte Max Weber mit seiner These vom fortschrittlichen Charakter der protestantischen Ethik. Es kam, wie Borutta in Anlehnung an Edward Said schreibt, zu einer Orientalisierung des Katholizismus, und der Antikatholizismus agierte für Borutta gleichsam wie ein «‹kultureller› Kolonialismus». (154)

Im zweiten Teil seiner Studie geht Borutta zunächst den antiklerikalen Medien nach und untersucht, wie diese an der negativen Stereotypisierung und Visualisierung des katholischen Klerus mitzeichneten. Eindrücklich hat Borutta dazu etwa eine Vielzahl von deutschen und italienischen Karikaturen herangezogen und auch die geschlechtergeschichtlichen Dimensionen antikatholischer Bilder herausgearbeitet. Ferner widmet er sich unter dem Titel «Antiklerikale Gewalt» den Tumulten, die im Klostersturm in Berlin Moabit von 1869 ausgebrochen waren. In diesem Teil ist er auch den mit dem Verbot der katholischen Orden in Piemont im Jahr 1855 zusammenhängenden Ereignissen nachgegangen. Für beide Länder macht Borutta gemeinsame Handlungsfelder des Antikatholizismus aus, ferner wirkten transnationale Prozesse auf dessen Entwicklung ein.

Im dritten und letzten Teil seiner Studie geht es Borutta schliesslich um die Zurückweisung der Säkularisierungsthese, die ihm zufolge als Teil der europäischen Kulturkämpfe des 19. Jahrhunderts gelesen werden müsse und selbst ein Produkt derselben gewesen sei. Borutta rekapituliert die Entstehung der Säkularisierungstheorie aus den Auseinandersetzungen liberaler Politiker und Intellektueller mit zeitgenössischen Ereignissen, so Heinrich von Sybels Beschäftigung mit den ‹Kölner Wirren› von 1837, die in der Verhaftung des Erzbischofs von Köln kulminierten, ferner Johann Caspar Bluntschlis Position gegenüber dem Züriputsch, dem vornehmlich gegen die Säkularisierung des Schulwesens gerichteten konservativen Umsturz der Regierung des Kantons Zürich von 1839, und schliesslich dem Konzept einer «freien Kirche in einem freien Staat» des piemontesischen Politikers Camillo Benso de Cavour, wobei Borutta insbesondere auf die Herkunft von Cavours Mutter aus dem kalvinistischen Genfer Bürgertum hinweist. Schliesslich wendet sich Borutta der Entstehung der deutschen Zentrumspartei und der Bismarckschen Kirchenpolitik zu, jenen Aspekten, die bisher nahezu ausschliesslich im Mittelpunkt der Studien zum Kulturkampf standen, insbesondere den Kanzelparagraphen von 1867 bis 1871 oder dem Schulaufsichtsgesetz von 1872. Für den italienischen Kulturkampf untersucht Borutta die piemontesische Kirchenpolitik von 1850 bis 1855 oder den Aufbau eines weltlichen Bildungswesens nach Gründung des italienischen Nationalstaates. Abschliessend rekapituliert er die «Grenzen der Säkularisierung», die ihm zufolge aus «widersprüchlichen Prämissen und Zielen der Antikatholiken» (387) hervorgingen.

Das europäische ‹Zeitalter der Kulturkämpfe› muss, so Borutta in seinem Resümee, als ein räumlich, zeitlich und inhaltlich weit gefasstes, sowie «Nationen und Konfessionen übergreifendes, mehrdimensionales Phänomen» begriffen werden. (392) Die Unterschiede zwischen Deutschland und Italien lagen sowohl in den verschiedenen konfessionellen und politischen Verhältnissen beider Länder, als auch in der Besonderheit der Romfrage im italienischen Einigungsprozess. Gemeinsam hingegen war ihnen, dass sowohl in Deutschland als auch Italien der Kulturkampf Teil der Nationsbildung war, mit der Folge, dass die von Borutta so titulierten neuen nationalen Leitkulturen in einem Spannungsverhältnis zur katholischen Kultur standen. Eine weitere Gemeinsamkeit sieht Borutta in den pädagogischen Zielen des liberalen Bürgertums und der Ausrichtung auf eine bürgerliche Gesellschaft.

So verdienstvoll die Präsentation der europäischen Dimensionen der Kulturkämpfe des 19. Jahrhunderts auch ist, bleibt die umfangreiche Studie von Borutta doch nicht ohne Probleme. Diese beginnen mit dem Titel Antikatholizismus. Dieser Begriff suggeriert ein einseitiges Set an Stereotypen, Vorurteilen und Stigmatisierungen, eine lediglich von den Gegnern der katholischen Kirche geführte Kampagne. Der Katholizismus erscheint so als ein hilfloses Opfer eines Feldzuges, als ohnmächtiges Objekt antikatholischer Unterstellungen, Strategien und Massnahmen. Zwar ist sich Borutta über den Kampf des Papstes gegen die mit der Französischen Revolution einsetzende Verwandlung der Welt durchaus im Klaren, auch verweist er gelegentlich auf die dezidierte Politik des Vatikan gegen den italienischen Nationalstaat, seine Formulierungen und Ausführungen aber legen doch eine einseitige Sicht auf den Kulturkampf nahe. Tatsächlich handelt es bei den Kulturkämpfen um Auseinandersetzungen, die von beiden Seiten mit rigoroser Härte, äusserster Aggressivität und unter Anwendung aller Möglichkeiten geführt wurden, die das Austragen öffentlicher Konflikte seinerzeit bot.

Die Unausgewogenheit der Darstellung verdeckt ferner, dass es sich bei den europäischen Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts vielfach um innerkatholische Auseinandersetzungen handelte, die sich vornehmlich gegen bestimmte Flügel innerhalb der katholischen Kirche richteten.

In dieser Hinsicht erscheint es ebenfalls problematisch, dass Borutta, dessen Ziel es war, den deutschen Kulturkampf in seiner ganzen Breite zu analysieren, in alter nationalstaatlicher Tradition Österreich ignoriert, und dies, obgleich er selbst beansprucht, «das borussozentrische Bild» zu relativieren. (324) Für mehr als zwei Drittel des von ihm analysierten Zeitraums war das erst mit dem Jahr 1866 aus der deutschen Geschichte ausscheidende Österreich integraler Bestandteil der deutschen Geschichte. Der österreichische Kulturkampf wiederum hätte die überaus fruchtbare Möglichkeit geboten, die spezifische Form des Konfliktes zwischen der katholischen Kirche und der Habsburgermonarchie herauszuarbeiten, die hier in besonderer Schärfe als ein Kampf zweier Linien innerhalb des Katholizismus hervorgetreten ist.

So sehr die einstige These vom deutschen Sonderweg und dem Mangel an Liberalismus in der deutschen Gesellschaft an Überzeugungskraft eingebüsst hat, so wenig kann es überzeugen, wenn Borutta nun den Spiess umdreht und dem deutschen Kaiserreich einen liberalen Charakter zuschreibt. Die kulturelle Hegemonie übten im deutschen Kaiserreich die konservativen Eliten aus, und das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht für den Deutschen Reichstag machte das Kaiserreich keineswegs zu einem demokratischen Staat.

Boruttas zentrales Anliegen ist es, die Säkularisierungstheorie zu widerlegen, reduziert diese jedoch – ebenso wie in nicht wenigen neuere Studien, die diese glauben als überholt abtun zu können – auf die Privatisierung der Religion sowie die Differenzierung der Religion von Politik, Wissenschaft und Kunst im 19. Jahrhundert. Die Säkularisierung war jedoch ein über Jahrhunderte sich hinziehender Prozess, der lange vor dem Untersuchungszeitraum eingesetzt hat. Vor allem hing dieser auch mit der Herausbildung der Marktgesellschaft und des industriellen Kapitalismus zusammen, insbesondere mit der Auflösung der religiös-kulturell eingebetteten Ökonomie der vorindustriellen Subsistenzwirtschaft.

Wenn Borutta dem liberalen Kampf gegen den klerikalen Einfluss «Regelmäßigkeit und Kohärenz» (217) unterstellt oder wenn er davon spricht, dass die Liberalen den Kulturkampf als «ein umfassendes Projekt [...] auf lokaler, regionaler, nationaler und transnationaler Ebene» angelegt hätten (326), stellt sich die Frage, ob Borutta nicht lediglich ein neues Master Narrative konstruiert, und damit sowohl die Kontingenz und Offenheit der Geschichte ignoriert als auch andere Entwicklungsmöglichkeiten ausblendet. Gerade die Geschichte der italienischen Einheitsbewegung zeigt, dass die Geschichte des Liberalismus ebenso wie diejenige des Katholizismus im 19. Jahrhundert auch völlig anders hätte ausgehen können. An deren Anfang steht etwa ein liberaler Katholik wie Vincenzo Gioberti mit seiner Idee einer Einigung Italiens unter päpstlicher Führung, ein Programm, das Borutta nur kurz streift, um anschliessend umso ausführlicher Giobertis Schriften gegen Jesuiten zu zitieren und ihn als Antikatholiken vorzustellen.

Der Konstruktion eines neuen Master Narrative entspricht schliesslich die schwer nachvollziehbare Schlusssequenz von Borutta, derzufolge der Antikatholizismus «durch zwei konträre Tendenzen gekennzeichnet» sei: «eine Logik der Vernichtung» und eine «Logik der Koexistenz», eine Formulierung, die offensichtlich überpointiert ausgefallen ist.

Trotz dieser Einwände handelt es sich bei der Arbeit von Manuel Borutta um eine gewichtige und eindrucksvolle Studie. Ihre Verdienste liegen nicht nur darin, dass die europäischen Dimensionen der Kulturkämpfe des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet werden, sondern auch der emotionale, gegen den Katholizismus gerichtete Furor des Bürgertums. Damit hat Borutta einen erhellenden Beitrag zur Entzauberung des Bürgertums geleistet, das keineswegs so nüchtern, vernünftig, selbstbeherrscht und verantwortlich war, wie es in der neueren Bürgertumsforschung bisweilen erscheint.

Zitierweise:
Ulrich Wyrwa: Rezension zu: Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 105, 2011, S. 562-565.